Kieler Polizei setzt rechtsoffenen „Querdenken“-Aufmarsch durch

Am heutigen Samstag (12.12.2020) beteiligten sich insgesamt über 300 Antifaschist*innen an Aktivitäten gegen den Aufmarsch von mindestens 300 Angehörigen der rechtsoffenen „Querdenken“-Szene in Kiel. Die Kieler Polizei setzte die Veranstatung trotz offensichtlicher Auflagenverstöße mit rabiaten Methoden durch.

Dass die Ausgangsbedingungen für effektive Gegenaktionen schwer werden würden, war für die  beteiligten Strukturen schon im Vorfeld absehbar gewesen: Viele Mitstreiter*innen, die unter anderen Umständen der Mobilisierung gefolgt wären, wollten oder mussten wegen der zunehmend angespannten pandemischen Situation zu Hause bleiben und die Ordnungsbehörden setzten schon im Vorhinein alles daran, antifaschistische Proteste an der Route der Sozialdarwinist*innen und Verschwörungsideolog*innen zu verunmöglichen. Mehrere Anmeldungen wurden untersagt, Demonstrationsrouten nur im Innenstadtbereich genehmigt und die Polizei war schon in den Wochen zuvor wiederholt harsch auch gegen kleinste Gegenaktionen am Rande von Kundgebungen der Corona-Relativierer*innen vorgegangen. Diese Tendenz sollte sich im Laufe diese Samstags bestätigen.

Nichtsdestotrotz begann der Tag aus antifaschistischer Perspektive vielversprechend: An der Bündniskundgebung des Runden Tisch gegen Rassismus und Faschismus am Wall Höhe Schifffahrtsmuseum versammelten sich ab dem späten Vormittag bis zu 300 Menschen, während der Auftaktort der „Querdenker*innen“ sich nur langsam füllte. Redner*innen verschiedener antifaschistischer und gewerkschaftlicher Organisationen machten in diversen Beiträgen abermals deutlich, dass der zweifelsohne notwendige Widerstand gegen reaktionäre Krisenerscheinungen wie „Querdenken“ und das Beharren auf einem solidarischen Umgang mit der lebensgefährlichen Pandemie keineswegs gleichbedeutend mit der Zustimmung zu den Corona-Maßnahmen der Regierenden ist. Insbesondere die Zuspitzung der Verteilungsfrage sowohl im nationalen, als auch globalen Maßstab wurde vielfach antikapitalistisch beantwortet und Solidarität mit den vielen Betroffenen der Abwälzung der Lasten der Corona-Krise nach unten ausgedrückt: Den Pfleger*innen, den Verkäufer*innen, den Alten, den Geflüchteten, den Bevölkerungen des globalen Südens. Einzig das Grußwort des Stadtpräsidenten Tovar wirkte deplaziert.

Im Laufe der Antifa-Kundgebung begann in Sicht- und Hörweite, aber mit deutlichem Sicherheitsabstand und polizeilich abgeriegelt, die Veranstaltung der „Kiel steht auf“-Initiative von Björn Dinklage am Ostseekai. Während die Polizei sich bei der antifaschistischen Kundgebung nicht zu blöd war, um jeden Meter Grünstreifen zu feilschen, gab sie sich hier wie gehabt großherzig, nahm es mit der Auflage, Masken zu tragen, nicht sonderlich genau und signalisierte frühzeitig, Gegenproteste nicht zu dulden. Gegen 13 Uhr setze sich der mittlerweile auf mindestens 300 Personen angewachsene Haufen, darunter auch der AfD-Landtagsabgeordnete Volker Schnurrbusch und Angehörige der Reichsbürger*innen-Szene, wie erwartet über die Brunswiker Straße Richtung Holtenauer Straße in Bewegung. Mittlerweile hatten sich viele Teilnehmer*innen der Bündnis-Kundgebung, die sich wenig später auflöste, sowie vorherige Teilnehmer*innen der Fahrraddemo der TKKG gegen den Klimanotstand, Richtung Aufmarschroute bewegt.

Immer wieder kam es hier zu kleineren Blockadeversuchen und lautstarken Protesten am Rand, denen sich auch Passant*innen spontan und vehement anschlossen. Viele dieser Aktionen wurden jedoch durch die massive Polizeibegleitung unmittelbar und unverhohlen abgedrängt und unterbunden. Am Dreiecksplatz wurde eine kleine Gruppe Radfahrer*innen eine halbe Stunde lang gekesselt, im Bereich Holtenauer Straße/Waitzstraße wiederfuhr dasselbe etwa 30 Antifaschist*innen, die lautstark gegen die Querdenker*innen protestiert hatten. Als sich der Marsch über den Knooper Weg zurück Richtung  Ostseekai bewegte, kam es in der Schauenburger Straße zu einem schweren Polizeiübergriff auf Gegendemonstrant*innen. Als sich eine kleine Gruppe Antifaschist*innen dem Zug auch nur näherte, schlugen herbeieilende Polizist*innen zwei von ihnen unvermittelt nieder und durchsuchten diese anschließend akribisch. Eine betroffene Person wurde verletzt und musste von Rettungssanitäter*innen behandelt werden.

Gegen 16.30 Uhr endete der bereits stark zusammengeschrumpfte „Querdenken“-Aufmarsch am Ausgangspunkt Ostseekai. Zuvor hatten etwa 30 verbliebene wackere Antifaschist*innen deren langatmige Abschlusskundgebung vom Schlosspark aus mit angemessenen Unmutsbekundungen und lauten Sprechchören begleitet.

Der heutige Tag hat die mehrdimensionalen Herausforderungen, mit denen Kieler Antifaschist*innen in der Auseinandersetzung mit der reaktionären Mobilisierung gegen die Corona-Maßnahmen umzugehen haben, abermals verdeutlicht. Während die dringend erforderliche inhaltliche Verknüpfung des Antifaschismus mit der sozialen Frage auf der Bündniskundgebung angemessen bewerkstelligt wurde, stellt sich die zunehmend repressive und aggressive Linie der Kieler Polizei gegen linke Demonstrant*innen als die größte Hürde heraus, effektiv auf das Umfeld von „Querdenken“ reagieren zu können. Der Wille, sichtbaren antifaschistischen Widerspruch im Keim zu ersticken und notfalls mit Gewalt zu unterbinden, hat sich heute abermals fortgesetzt. Völlig zu Recht dankten die „Querdenken“-Organisator*innen auch heute wieder den Ordnungskräften für die reibungslose Kooperation. Es ist daher wenig verwunderlich, dass mit dem wöchentlichen Laternenumzug am kommenden Montag, einem weiteren „Schweigemarsch“ nächsten Samstag und der nächsten „Querdenken“-Demo am 09.01.2020 im selben Atemzug gleich drei Folgeveranstaltungen in Kiel angekündigt wurden.

Wenn sich Kiel zu einer Komfortzone für sozialdarwinistische und verschwörungsideologische Akteur*innen mitsamt ihres rechten Anhangs entwickeln sollte, während ihre Veranstaltungen in anderen Städten mittlerweile wegen der programmatischen Missachtung von Hygiene-Bestimmungen untersagt werden, ist dies zu allererst dem Kuschelkurs von Ordnungsbehörden und Polizei zu verdanken. Da sich auch in Schleswig-Holstein ein zunehmend harter Lockdown abzeichnet, wird eine gut organisierte Antwort von antifaschistischer Seite in den nächsten Wochen nicht einfacher zu berwerkstelligen werden. Diejenigen Rathaus-Vertreter*innen, die zum heutigen Tag wohlige Worte für die antifaschistischen Proteste übrig hatten, täten gut daran, ihnen zunächst einmal selbst Folge zu leisten und die ihnen unterstehenden Behörden zurückzupfeifen, wollen sie ernst genommen werden. Gleichzeitig muss die Kieler Linke trotz des andauernden Aktionismus des „Querdenken“-Lagers weiter einen gut ausgeloteten Kurs halten, sich nicht ausschließlich an diesen abzuarbeiten, sondern ihre Kapazitäten auch in die viel grundlegenderen Krisenauseinandersetzungen zu investieren.

Corona hat die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht verbessert, es wird weiterhin viel zu tun bleiben. An den vielen Antifaschist*innen, die sich heute dem „Querdenken“-Irrsinn entgegen gestellt haben und denen, die dies unter weniger problematischen Grundvorraussetzungen ebenfalls getan hätten, wird es nicht scheitern, ihnen entgegenzusteuern.

Medien: KN | NDR