Lübeck 26. März 2011 & Repression

Erfahrungen und Einschätzungen einiger Kieler Antifaschist*Innen

Seit 2006 versuchen vorwiegend norddeutsche Alt- und Neonazis anlässlich der Bombardierung Lübecks durch alliierte Bomber im Zweiten Weltkrieg auf zu marschieren.
Seit 2006 mobilisieren verschiedene antifaschistische Bündnisse und Initiativen gegen die Bestrebungen der Neonazis.
Seit 2006 wird der Widerstand mit Polizeirepression, teils massiven Übergriffen, konfrontiert.

Die Hintergründe

Jährlich laufen NPD und „freie Kräfte“ zu geschichtsrevisionistischer Höchstform auf und deuten die Einheiten der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS zu ehrenhaften Helden um, während die Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition, die Europa und die ganze Welt von der faschistischen Terror-Herrschaft befreiten, dagegen als Kriegsverbrecher bezeichnet werden. In der Vertauschung von Täter- und Opferrollen werden die Verbrechen Nazideutschlands, die Ermordung von 6 Millionen Jüd*Innen, Hunderttausenden Menschen mit Behinderung, Sinti, Roma, sowjetischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen, (vor allem kommunistischen) Antifaschist*Innen und der Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung Polens und der Sowjetunion, relativiert und verleugnet.


Der 26. März 2011

Der Mobilisierung des Lübecker Bündnisses „Wir können sie stoppen“ folgten am Morgen des 26. März 2011 etwa 2000 Antifaschist*Innen. Gelang es ein Jahr zuvor die Aufmarschroute der Nazis zu blockieren und mussten diese folglich nach gerade einmal 170 Metern den Rückweg antreten, wurde der Aufmarsch dieses Jahr von einem enormen Polizeiaufgebot gegen den Widerstand der Nazigegner*Innen durchgesetzt. Stadt und Polizei waren an diesem Tag von Beginn an darauf aus den antifaschistischen Protest möglichst klein zu halten: Die Naziroute wurde bereits ab 04:30 Uhr von einem Großaufgebot von etwa 3000 PolizistInnen weiträumig abgeriegelt und Blockadeversuche brutal geräumt. Im Tagesverlauf kam es zu insgesamt 23 schikanösen Ingewahrsam- und Festnahmen, unter anderem von sieben Genoss*Innen aus Kiel.

Gegen Mittag wurden die Genoss*Innen unter dem Tatvorwurf des „Landfriedensbruches“ von einer Schweriner BFE-Einheit festgenommen und in die zentrale Gefangenensammelstelle in der Polizeiwache Possehlstraße gefahren. Während der gesamten Zeit des unfreiwilligen Freiheitsentzuges sahen sich die Gefangenen mit psychischer und physischer Gewalt seitens der PolizistInnen konfrontiert. Ausdruck fand diese in Form von permanenten Beleidigungen, verbalen Angriffen sowie Gewaltanwendungen, wie dem Verdrehen von Arm und Handgelenk. In der Tiefgarage des Gebäudes wurden die Gefangenen durchsucht, unter der Androhung von Gewalt wurden sie dazu genötigt sich vor jeweils etwa fünf PolizistInnen vollständig zu entkleiden. Die Maßnahme wurde auch auf Nachfrage nicht begründet, sowie der Widerspruch gegen eben diese trotz mehrfachen darauf Bestehens nicht dokumentiert. Einer Genossin wurde ihre benötigte Brille abgenommen und nachdem sie sich weigerte mit den Beamten zu kooperieren, für die restliche Zeit des Gewahrsams einbehalten. Als Gewahrsamszellen fungierten teils völlig überhitzte oder unterkühlte und extrem staubige Garagen, in welche die Antifaschist*Innen mehrere Stunden eingesperrt waren. Minimale Mengen Wasser wurden erst nach etlicher Zeit zur Verfügung gestellt, sowie Toilettengänge teils verweigert beziehungsweise mindestens stark verzögert.


Die Kontinuität…

Das Demonstrationsgeschehen, besonders die Einsätze der Polizei, anlässlich der jährlichen Aufmarschversuche der Nazis in Lübeck werden seit 2008 von unabhängigen Demonstrationsbeobachter*Innen beobachtet und ausgewertet. In diesem Zusammenhang dokumentierte die Humanistische Union Lübeck bereits in ihrem Bericht zum 28.03.2008, dass sich mehrere ingewahrsamgenommene Sitzblockierer*Innen, unter denen sich auch Minderjährige befanden, ebenfalls entkleiden mussten. Auf die fehlende Gesetzesgrundlage dieser Maßnahme wies die Organisation bereits die vorherigen Jahre hin. Eine Änderung im Umgang mit Fest- oder Ingewahrsamgenommenen seitens der Behörden kann bis heute allerdings nicht festgestellt werden. Im Gegenteil bestätigen die Erfahrungen aus diesem Jahr eine Fortsetzung dieser Prozedere, welche ausschließlich als Demoralisierungs- und Einschüchterungsversuche bewertet werden können.


…in Lübeck

Sowohl die Vorkommnisse auf der Polizeiwache, als auch die massiven Übergriffe von PolizistInnen gegen den Widerstand von Antifaschist*Innen auf der Straße, sind keine tragischen Einzelfälle. Sie sind Ausdruck einer Politik, die Repression als Mittel zur Erhaltung der Norm beziehungsweise zur Bestrafung von Menschen, die für oder gegen etwas aufbegehren, einsetzt. Sie soll die Betroffenen einschüchtern und demoralisieren. Zugleich ist sie als Warnung an alle Anderen zu verstehen und stellt den Versuch dar, kollektive Dynamiken zu zerschlagen.

Gegen die Auftritte der Nazis mobilisiert jährlich das seit Ende 2005 aus unterschiedlichsten Spektren bestehende Bündnis „Wir können sie stoppen“. Zudem wurde die „Wir können sie stoppen“ – Mobilisierung zeitweise von weiteren Initiativen wie dem „Bündnis Autonomer Antifas Nord“ oder „Mut zur Lücke“ unterstützt. Ob (Sitz-)Blockade oder Versammlung von Nazigegner*Innen auf dem Gelände der Lübecker Bodelschwingh Kirchengemeinde, ob Autonome*R und Linksradikale oder Gewerkschafter*In ist gleich. Die Erfahrungen zeigen, dass Ziele der Angriffe Alle werden, die die Verhältnisse thematisieren, welche als Symptom eben auch Nazis produzieren oder auch nur sich außerhalb des vorgegeben Rahmens antifaschistisch betätigen.


Repression

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es uns nicht um das Beklagen von Repression oder dem Rufen nach Rechtsstaatlichkeit geht. Wir begreifen repressive Praxis und Ideologie als Fundament herrschender Ordnung auf vielen verschiedenen Ebenen, sie dient der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Normalzustandes. Sowohl aus unserer Analyse von staatlicher Ideologie (mit uns ist eine radikale Linke gemeint, welche antagonistisch zu den bestehenden Verhältnissen steht), sowie gesellschaftlichen Mechanismen des Systems, als auch aus unseren Erfahrungen, haben wir keine andere Behandlung durch die Cops erwartet. Trotzdem wollen wir nicht so tun, als ob wir die krassen Straßenkämpfer*Innen wären, die völlig unbeeindruckt aus der ganzen Geschichte raus gehen. Außerdem halten wir es für sinnvoll Vorgänge dieser Art zu dokumentieren und zu veröffentlichen, um in der Analyse den Bezug zu den realen Verhältnissen herstellen und Entwicklungstendenzen erkennen zu können.

Die Erfahrung von Repression hat immer Auswirkungen auf die oder den Betroffene*N. Sie kann das Gefühl von Angst, Ohnmacht oder Wut hervorrufen, in den jeweiligen Situationen sind die Betroffenen damit konfrontiert auf den Verlauf des Geschehens keinen oder nur begrenzten Einfluss nehmen zu können. Das Individuum soll für sein Verhalten bestraft werden. Die Strafe soll es zukünftig von diesem Verhalten abhalten. Gleichzeitig soll sie der Bewegung als Warnung dienen, sich nicht in gleicher Weise zu verhalten, also nicht für eine politische Utopie, Einstellung, in diesem Fall gegen das Aufmarschieren von Neonazis, einzutreten. Repression ist nicht nur gegen eine*N persönlich gerichtet, sondern gegen das politische Handeln, die Identität, die dahinter steht. Eines ihrer Mittel ist die Individualisierung, die in mehrere Ebenen hineinwirkt. Der erste Aspekt ist das heraus greifen und anklagen Einzelner, stellvertretend für eine Bewegung. Der zweite Punkt der Individualisierung sind die strafrechtlichen Konsequenzen, welche zu befürchten sind und eine entsprechende Auseinandersetzung (Zeit und Nerv) bedürfen. Während die dritte Ebene die emotionale Auseinandersetzung und Reaktionen der Betroffenen beschreibt. Für uns ergibt sich daraus die notwendige Konsequenz des Austausches, der Auseinandersetzung zur Stärkung eines kollektiven Bewusstseins.

„Die Stärke unserer (militanten) Aktionen steht und fällt mit der Verbindlichkeit sozialer Beziehungen und gemeinsam getroffener Entscheidungen.“ (einige Antifaschist*Innen aus Hannover)

Ein Umgang mit Repression ist nicht Sache einzelner sonder aller. Die Antwort auf die Repression gegen den breiten Widerstand in Lübeck sollte eine solidarische Haltung in gegenseitiger Bezugnahme aufeinander sein.

„Bei allen weltanschaulichen Unterschieden, eint uns der Wille, den Nazis Paroli zu bieten“ („Wir können sie stoppen“-Bündnis)

Und nu?

Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keinen offiziellen Verfahrensstand. Alles was an Informationen existiert, sind die, teils unterschiedlich, mündlich formulierten Tatvorwürfe der Cops unseren Genoss*Innen gegenüber. Ob weitere Schritte seitens der Repressionsorgane eingeleitet werden bleibt vorerst unklar. Haltet eure Augen und Ohren offen!

einige Kieler Antifaschist*Innen im Mai 2011

„Unsere Solidarität gegen ihre Repression!“ – Aufruf von AntifaschistInnen aus Kiel Dezember 2010

Unsere Solidarität gegen ihre Repression!

In Kiel stehen mal wieder einige Prozesse gegen Antifaschist_innen an. Die Vorwürfe sind unterschiedlich, der Grund ist jedoch in allen Fällen der selbe. Konsequenter Antifaschismus, der sich nicht auf die leeren Worthülsen bürgerlicher Politiker_innen beschränkt, ist notwendig und muss sich notwendig auch gelegentlich über bestehende Gesetze hinwegsetzen. Denn gerade von einem Staat, der die Totalitarismustheorie zur Leitidee erhoben hat und ständig bemüht ist, die radikale Linke ideologisch mit Nazis gleichzusetzen und mit Repression zu überziehen, ist nichts Gutes zu erwarten.

Zudem befinden wir uns seit Jahren in einer Situation, in der der herrschende Diskurs und die herrschende Politik ein zunehmend repressives Klima schaffen. Spätestens seit 2001 schafft sich der Staat mit dem Vorwand der Terrorbekämpfung ein immer umfangreicheres Instrumentarium an Repressionsmitteln; führende Politiker_Innen sind stets bemüht, Dinge wie „eine neue RAF“ heraufzubeschwören und nicht zuletzt die Repressionswelle im G8-Vorfeld 2007 hat gezeigt, dass der Staat mit dem Terrorismusvorwurf auch gegen die radikale Linke
vorzugehen bereit ist. Doch damit nicht genug, müssen wir auch noch das permanente Gejammer der Polizeigewerkschaften ertragen, das im Oktober schließlich zu einer Verschärfung des Strafmaßes bei vermeintlichem oder realem „Widerstand“ führte.

Erst kürzlich wurde in Kiel ein Antifaschist wegen Geschehnissen in Neumünster angeklagt. Gerade die dortige Situation beweist immer wieder aufs Neue, wie notwendig antifaschistische Intervention gegen die beschissenen deutschen Zustände ist. Bei einem versuchten Aufmarsch waren Nazis dieses Jahr an einigen Stellen effektiv an ihrem menschenverachtenden Treiben gehindert worden. Jedoch hatte die Polizei wohl noch eine Festnahmequote zu erfüllen, um sich in der Öffentlichkeit keine Untätigkeit vorwerfen lassen zu müssen. Das Verfahren endete letztlich mit einem Freispruch. Staatlicherseits ein repressiver Schnellschuss und auch ein Schuss in den Ofen.

Wollen wir den Kampf für eine Welt nicht aufgegeben, in der nicht mehr Ausbeutung und Unterdrückung die bestimmenden Prinzipien sind, dann müssen wir uns eine Antwort auf staatliche Repression einfallen lassen,
die mehr ist, als nur Soli-Kohle für von Repression betroffene Personen klarzumachen. Wir müssen in den Fokus rücken, dass Repression die logische Konsequenz auf radikale Linke Politik ist. Gerade linksradikaler Antifaschismus darf sich nicht darauf beschränken, gegen einzelne Nazis vorzugehen, sondern muss Staat, Nation und all die
anderen Verhältnisse, in denen faschistisches Gedankengut (re-)produziert wird in in ihren Grundfesten kritisieren und auch praktisch bekämpfen.
Es gilt deutlich zu machen, dass Repression nicht nur diejenigen Menschen betrifft, die gerade mal das Pech hatten, ins/vors Visier des staatlichen Gewaltapparates zu geraten. Wir müssen vermitteln, dass Repression dazu dient, linke Politik und Aktivist_innen zu kriminalisieren und in ihrer Arbeit einzuschränken.

Deswegen sollten wir auch mit Prozessen nicht umgehen, als wäre dieses nur ein individuelles Problem der Betroffenen (obwohl es sicher unter anderem auch das ist). Wir müssen deutlich machen, dass der Staat
probiert, die Prozesse auf eine rein strafrechtliche Ebene zu ziehen und damit zu entpolitisieren. Unsere Aufgabe ist es, die politische Motivation dieser Anklagen in den Vordergrund zu rücken, die Prozesse im besten Fall offensiv politisch zu führen! Wir müssen klar machen, dass zwar verschiedenen Leuten verschieden bedruckte Briefe ins Haus flattern, die aber an eine gemeinsame Adresse gerichtet sind: Denn gemeint sind wir alle und unsere politische Arbeit! Daher müssen wir auch im Umgang mit Repression gemeinsame Vorgehensweisen finden.

Unsere Solidarität gegen ihre Repression!
Für eine Welt ohne Nazis, Staat, Nation und Klassenjustiz!

Weil Solidarität mit schönen Worten allein nicht machbar ist, haben wir
auch ein Konto und hoffen, dass ihr Ideen habt, wie ihr uns politisch
und/oder finanziell unterstützen könnt:

Rote Hilfe e.V. Kiel
BLZ: 200 100 20
Postbank Hamburg
Konto-Nr.: 88 214 207
Stichwort: Prozesskosten Kiel


Wenn ihr selber von Repression betroffen seid oder einfach Solidaritätsbekundungen loswerden wollt, dann meldet euch bei: antirepressiva-kiel[ät]gmx.de

Prozess gegen Kieler Antifaschist wegen spontanen Aktionen gegen Naziaufmarsch

Am nächsten Dienstag findet ein Prozess gegen einen Kieler Antifaschisten statt. Ihm wird vorgeworfen, sich im Rahmen der spontanen Proteste gegen einen kurzfristig angemeldeten Naziaufmarsch am 7.4.2009 in Kiel gegen seine Gewahrsamnahme gewehrt zu haben und dabei einem gepanzerten Polizisten blaue Flecken zugefügt zu haben. Die Anklageschrift wurde im Laufe der Zeit zweimal geändert und wieder einmal muss sich ein Mensch für seinen Protest gegen öffentlich auftretende Neonazis rechtfertigen.
Am Abend des 7.4.2009 führten etwa 25 Neonazis der „Aktionsgruppe Kiel“ und der NPD zwischen 19 und 20.30 Uhr einen kurzfristig angemeldeten Aufmarsch in der Kieler Innenstadt durch. An den spontanen Gegenaktionen beteiligen sich über 100 AntifaschistInnen. Die Polizei schirmte den gesamten Aufmarsch ab und ging mit äußerster Brutalität gegen protestierende AntifaschistInnen vor. TeilnehmerInnen einer Sitzblockade an der Bushaltestelle Hauptbahnhof wurden verprügelt, ein Journalist wurde mit Schlägen an seiner Arbeit gehindert und immer wieder fielen vor allem PolizistInnen der Eutiner BFE-Einheiten durch Gewaltandrohungen und -anwendungen gegen AntifaschistInnen auf. Nachdem die Nazis ihren kurzen Aufmarsch beendet hatten, durften diese den Ort des Geschehens durch den Hauptbahnhof verlassen und ohne Polizeibegleitung Richtung Arbeitsamt abziehen, während AntifaschistInnen von der Polizei am Hauptbahnhof festgehalten wurden.
Den ganzen Artikel zu den Ereignissen: http://www.antifa-kiel.org/index.php/news/items/spontaner-naziaufmarsch-in-kiel-behindert.51.html

Kieler Polizei im Einsatz gegen AntifaschistInnen: „Unverhältnismäßig und rechtswidrig“

Im Einsatz gegen engagierte GegnerInnen von Nazi-Umtrieben bewegt sich die Kieler Polizei oftmals jenseits von Recht und Gesetz. Das hat nun auch der Landesbeauftragte für Datenschutz festgestellt. Wir fordern die politischen EntscheidungsträgerInnen auf, diesem Treiben umgehend Einhalt zu gebieten.

 

Am Abend der Kommunalwahlen im Mai 2008 wurden zahlreiche EinwohnerInnen unserer Stadt am Betreten ihres Rathauses, wo sie der Bekanntgabe der Wahlergebnisse beiwohnen wollten, gehindert. Die Anweisung dazu kam von Polizeibeamten, die dem Ordnungsdienst mitgeteilt hatten, die betreffenden Personen seien als engagierte Nazi-GegnerInnen bekannt.

Antifaschistisches Engagement als Begründung für die Verweigerung von Bürgerrechten? Kaum zu glauben, aber inzwischen auch amtlich. Zwei der Betroffenen haben sich an das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz (ULD) gewandt.

 

In einem Antwortschreiben an Bettina Jürgensen, eine der SprecherInnen des Runden Tisches gegen Rassismus und Faschismus in Kiel – sie arbeitet dort als Delegierte der Gewerkschaft ver.di mit – heißt es: „Die Informationsweitergabe des Polizeibeamten an den Vertreter der Stadt Kiel haben wir beanstandet. Es gibt nach Auffassung des ULD für die Datenübermittlung keine gesetzliche Erlaubnisnorm. Wie anlässlich von Störungen bei Wahl-handlungen und bei der Feststellung des Wahlergebnisses zu verfahren ist, regelt das Landeswahlgesetz abschließend. Der Wahlvorstand kann Personen, die die Ordnung und Ruhe bei Wahlhandlungen und bei der Feststellung des Wahlergebnisses stören, aus dem Wahlraum verweisen. Das ist in Ihrem Fall nicht geschehen; nach Ihrer – auch insoweit unbestrittenen – Sachverhaltsdarstellung wurde Ihnen im Rahmen einer ‚Einlasskontrolle’ der Zutritt verweigert. Dem anwesenden Polizeibeamten waren Sie als langjährig der Kieler Antifa-Szene zuzurechnende Person bekannt. Diese Angabe führte bei dem Vertreter der Stadt dann dazu, das Hausverbot auszusprechen. Bei der Datenübermittlung nach § 192 Abs. 1 Landesverwaltungsgesetz (LverwG) sehe ich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend berücksichtigt.“

 

In der schriftlichen Begründung der Stadt Kiel für das Hausverbot heißt es tatsächlich: „Es ist bekannt, dass Sie ständige Teilnehmerin bei Demonstrationen von antifaschistischen Aktivisten in Kiel sind.“ Hier wäre zu fragen, ob die Bezeichnung „Aktivisten“ angebracht ist angesichts der Tatsache, dass zu den von Bettina Jürgensen mit organisierten bzw. angemeldeten Demonstrationen die vom 24.5.08 mit 1500 Teilnehmenden ebenso gehört wie die vom 29.1.2005 mit mehr als 8000 Menschen. Aber weiter: „Es bestand die Befürchtung, dass es zwischen rechts- und linksorientierten Besucher/innen während der Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu gewalttätigen Auseinandersetzungen im Rathaus kommen würde und die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben im Rathaus gefährdet war.“

In dem Schreiben des ULD heißt es außerdem: „Über Sie ist zwar bei der Landespolizei Schleswig-Holstein gespeichert, dass das 2. Polizeirevier Kiel (…) wegen des Verdachts auf Hausfriedensbruch ermittelt, aber am Wahlabend wurde bei der Kontrolle weder auf diese Information zurückgegriffen noch wäre sie geeignet, die Maßnahme – Hausverbot – zu begründen.“

 

Bei der Handlung, wegen der die Polizei ermittelt, handelt es sich keineswegs um eine kriminelle Aktion, welche die dafür verantwortliche Person in ein schlechtes Licht rücken und die Solidarität mit ihr in Frage stellen könnte. Es geht um den Protest gegen die Zulassung einer faschistischen Partei – der NPD – zu den Kommunalwahlen. Vorgetragen während der Sitzung des Kreiswahlausschusses, der über diese Zulassung zu befinden hatte. Solcher Protest ist in den vergangenen Jahren vor jeder Kommunal- oder Landtagswahl in Kiel von verschiedenen Personen vorgetragen worden. Zum ersten Mal hat dies der Kreiswahlleiter zum Anlass genommen, eine Antifaschistin des Saales zu verweisen, sie von der Polizei hinauswerfen zu lassen und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zu stellen. Dieser Vorfall zeigt, dass auch politische Kräfte in Kiel bemüht sind, Faschisten vor freiheitlichem Protest zu schützen und AntifaschistInnen zu kriminalisieren. Die Anzeige muss zurückgezogen werden! Hervorzuheben ist, dass das ULD eindeutig feststellt, auch der solchermaßen inkriminierte Protest hätte als Grund für ein Hausverbot am Wahlabend nicht ausgereicht.

 

Im Schreiben an den anderen Antifaschisten, der sich wegen des von der Polizei betriebenen Datenmissbrauchs und der Einschränkung seiner Bürgerrechte ans ULD gewandt hatte, beurteilt das ULD das Hausverbot als „unverhältnismäßig und rechtswidrig“.

Damit sind noch immer nicht alle Aspekte dieser Angelegenheit geschildert. Während über den letztgenannten Antifaschisten keinerlei irgendwo gespeicherte Daten aufzufinden waren, führte die Ermittlung gegen Bettina Jürgensen zur Speicherung ihrer Daten „voraussichtlich bis zum 20.5.2011“ unter anderem in der Datei „@rtus“. (Über diese Datei heißt es auf der Internetseite es ULD: „@rtus steht für den Aufbruch der Polizei des Landes in eine neue Welt der Informationsverarbeitung. Das Verfahren ist mit erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken in den Wirkbetrieb gegangen.“) „Diese Erkenntnisse“, so teilte das ULD Bettina Jürgensen weiter mit, „sind auch für das Sachgebiet 311 (politisch motivierte Straftaten) beim Landeskriminalamt Schleswig-Holstein (…) erfasst, weil … die Tatumstände einen politisch motivierten Hintergrund aufweisen. Aus diesen Gründen ist auch eine Speicherung in der BKA-Verbunddatei `INPOL – Fall Innere Sicherheit´ von der Landespolizei Schleswig-Holstein veranlasst worden. Im Rahmen des Meldedienstes PMK (politisch motivierte Kriminalität) erfolgte ein Informationsaustausch mit den Kommissariaten 5 der Bezirkskriminalinspektionen in Schleswig-Holstein, der Verfassungsschutzbehörde des Landes Schleswig-Holstein und dem Bundeskriminalamt.“

– „Politisch motivierte Kriminalität“. Unfassbar!

 

Es sei daran erinnert, dass Kieler Nazis, noch bevor die NPD mit Hermann Gutsche zum ersten Mal einen Vertreter in die Kieler Stadtvertretung entsenden konnte, zahlreiche gewalttätige Angriffe auf Linke und AntifaschistInnen unternommen hatten. Höhepunkt war die Woche vom 16.bis zum 22. April, während der es fast in jeder Nacht zu Überfällen auf Einrichtungen wie zum Beispiel die Gaardener Arbeitsloseninitiative kam. Der Zusammenhang zum NPD-Wahlkampf war offensichtlich, kandidierten doch einige Nazis um den mehrfach vorbestraften Nazi-Schläger und ehemaligen NPD-Landesvorsitzenden Peter Borchert selbst auf der NPD-Liste. Am Rande einer NPD-Kundebung anlässlich der konstituierenden Sitzung des Stadtparlaments am 12. Juni kam es ebenfalls zu Übergriffen durch so genannte „Autonome Nationalisten“, bei denen ein Antifaschist schwer verletzt wurde. Die 750 PolizistInnen, die das Rathaus weiträumig abgesperrt hatten, hielten zwar viele BürgerInnen vom Betreten des Hauses ab, verhinderten diese Gewalttat allerdings nicht.

 

Ein neuer Fall rechtswidriger Polizeiwillkür gegen Antifaschisten ereignete sich am 29. Oktober.

Auf ihrem Weg zu einer öffentlich beworbenen Podiumsdiskussion in einer Schule in Altenholz – Thema: „Wo fängt Rechtsextremismus an?“ – wurden drei junge Leute in ihrem Auto kurz hinter der Ortseinfahrt gestoppt. Es seien „Zwischenfälle“ zwischen „rechts und links“ zu befürchten. Mit dieser Begründung erhielten die drei von der Polizei dem linken Spektrum zugeordneten Personen, die auch am Runden Tisch mitarbeiten, einen Platzverweis für ganz Altenholz für den Rest des Tages. Ob hier nur Kieler Polizisten im Einsatz waren, ist zur Zeit unklar. Eine juristische Auseinandersetzung wird folgen.

 

Die Beschneidung von Grundrechten durch die Polizei ist ein Skandal, der Konsequenzen haben muss. Hier wird den Faschisten in die Hände gearbeitet. Diese Rechtsbeugungen dürfen nicht zur alltäglichen Erscheinung werden. Die Verantwortlichen für die genannten Einsätze müssen in ihre Schranken gewiesen werden. Wir fordern die im Stadtparlament vertretenen Parteien auf, dafür zu sorgen. Alle Demokratinnen und Demokraten sind aufgerufen, ihre demokratischen Rechte gegen Polizei- und Behördenwillkür zu verteidigen.

 

Runder Tisch gegen Rassismus und Faschismus Kiel

25.11.2008

Eine Bilanz der Antirepressionsgruppe 1. April, April 2008

RUNDE AUGENGLÄSER, AUFGEWÄRMTE UND DER LINKENHASS DER GAARDENER POLIZEI
Viertägiger, politischer Prozess gegen Kieler Antifaschisten endet mit Verurteilung
Staatsanwältin Füssinger geht in Berufung und macht Rückzieher

Am Mittwoch, 21.11.2007 wurde ein Kieler Antifaschist vorm Amtsgericht nach einem viertägigen Prozess wegen der angeblichen gefährlichen Körperverletzung an einem Neonazischläger zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen á 7,50 € (1125 €) verurteilt.
Anlass für den Prozesses war eine Auseinandersetzung zwischen stadtbekannten Neonazis und Antifaschisten am 01.04.2006 vor einem Gaardener Supermarkt. Die Verurteilung stützte sich dabei ausschließlich auf die Zeugenaussage eines bei der Auseinandersetzung anwesenden Begleiters der Neonazis und blendete die politisch motivierten einseitigen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zur Vorbereitung der Anklage aus.
Begleitet war der Prozess von Anfang bis Ende von einer überwältigenden Beteiligung an den antifaschistischen Solidaritätsaktionen innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals. Zunächst drohte für den Frühsommer 2008 die Neuauflage des Prozesses vorm Landgericht, nachdem die Staatsanwältin Füssinger in Berufung gegangen war. Diese zog sie jedoch im Februar überraschend zurück, womit das Urteil vom November rechtskräftig geowrden ist.
Dies ist eine Zusammenfassung der Ereignisse im Herbst 2007 und davor und der Versuch einer politischen Einschätzung derer.

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