Auf der Straße für die Evakuierung der EU-Geflüchtetenlager und gegen rechtsoffene Pandemierelativierung

Bis zu 300 Menschen versammelten sich am Samstag, 23. Mai 2020 an der Kiellinie zu einer einstündigen Kundgebung der Seebrücke Kiel anlässlich des bundesweiten #Leavenoonebehind-Aktionstags. Auch gegen rechtsoffene, verschwörungsideologische und sozialdarwinistische Auftritte von „Widerstand 2020“ gingen Antifaschist*innen am vergangenen Wochenende abermals vor.

Der Samstagnachmittag begann für die Aktivist*innen an der Reventlouwiese und der Kiellinie. Auf diversen Schildern und Transparenten sowie in mehreren Redebeiträgen, die jeweils an beiden Enden der weitläufigen Menschenkette gehalten wurden, wurde vehement die sofortige Evakuierung der überfüllten Lager an den EU-Außengrenzen gefordert, in denen etwa 40000 Menschen auf der Flucht trotz akuter Corona-Gefahr weiterhin eingepfercht leben müssen. Die Landesregierung wurde aufgefordert, umgehend die Unterbringung von Flüchtenden in Schleswig-Holstein zu ermöglichen, wozu sich zahlreiche Kommunen längst bereit erklärt haben. Der menschenverachtende Umgang der EU-Staaten mit Geflüchteten wurde als Ausdruck eines allgemeinen rassistischen Klimas gewertet, dessen Kehrseite die mörderische Gewalt gegen Migrant*innen und Nicht-Weiße wie z.B. der Terroranschlag von Hanau darstellt. Auch über die Kundgebung  hinaus gab es landesweit diverse kleinere und größere Aktionen, die sich auf den Aktionstag bezogen. So hatten Aktivist*innen schon am Samstagmorgen „Fähren statt Frontex“-Banner an Bord des Schwentinedampfers gezeigt.

Parallel zur Seebrücken-Aktion startete in der Kieler Innenstadt eine weitere Kundgebung von rechtsoffenen Coronaskeptiker*innen und Verschwörungsideolog*innen, die von dem lokalen Ableger der Parteineugründung „Widerstand 2020“ um den Kleinkünstler Björn de Vil aus Heikendorf organisiert wurde. Knapp zwei Stunden beteiligten sich an dieser knapp 60 Menschen, die einen Querschnitt der schon aus den letzten Wochen bekannten Spannbreite aus kruden Esoteriker*innen und chauvinistischen Wutbürger*innen abbildeten.

Die Kundgebung auf dem Asmus-Bremer-Platz wurde von Beginn an von antifaschistischen Protesten begleitet: Linke Skins hatten es sich unter einem „Gegen Hippies“-Banner bequem gemacht, während ein dicker Stapel Lügenpropaganda im Müll landete. Mit dem Zustrom von vorherigen Teilnehmer*innen der #Leavenoonebehind-Kundgebung intensivierten sich der Widerspruch und die Lage wurde konfrontativer. Der selbsternannte Widerständler und Verteidiger der Meinungsfreiheit de Vil selbst rief daraufhin die Polizei zur Hilfe, die die Antifaschist*innen ohne Einhaltung des Mindestabstands und Mundschutz rabiat zurückdrängte.

Nichtsdestotrotz konnten die Reden immer wieder durch laute Parolen gestört werden. Die Verschwörungsgläubigen zeigten sich insgesamt zunehmend aggressiv gegenüber Gegendemonstrant*innen. Auch ein spontaner Redner, der am offenen Mikro die permanente Relativierung der tödlichen Corona-Gefahr mit seinen persönlichen Erfahrungen aus einem Krankenhaus in Bremerhaven konterte, wurde abgewürgt. Die abergläubische Erzählung, wonach Corona nur ein Vorwand sei, um der Weltbevölkerung Chips einzupflanzen, und andere Märchen blieben dagegen unzensiert.

Insgesamt beteiligten sich am Samstag wieder über 50 Antifaschist*innen an den Gegenprotesten, obwohl diesmal keine explizite Mobilisierung stattgefunden hatte. Das aktionistische Setting, trotz des nötigen Widerstands gegen die im Kern rechte Straßenantwort auf Corona die tatsächlichen Problemverschärfungen im Ausnahmezustand nicht zu vergessen, für die die katastrophale Lage in den Lagern der Festung Europa nur ein Beispiel ist, sollte weiterhin linker Maßstab bleiben.

Auch am Sonntagnachmittag belästigten etwa 50 Coronaverharmloser*innen um „Widerstand 2020“ zwei Stunden lang die Spaziergänger*innen an der Kiellinie mit unhaltbaren Mythen und Relativierungen der Pandemie. 35 Antifaschist*innen ließen ihnen auch diesmal keine Ruhe und postierten sich mit dem Warnhinweis „Verschwörungsideologien können tödlich sein“ direkt neben der Kundgebung.

Für interessierte Kritiker*innen z.B. bestimmter Grundrechtseinschränkungen oder kapitalfreundlicher Gewichtungen der staatlichen Corona-Maßnahmen, die sich nicht auf das Glatteis von Phantasmen, Esoterik und rechtem Sozialdarwinismus begeben wollen, scheinen die Aktionen aus dem coronaskeptischen Lager zunehmend unattraktiv zu werden. Herrschte in den ersten Wochen noch eine hohe Fluktuation der Teilnehmer*innen, kristallisiert sich mittlerweile aus den verschiedenen Akteuren, die sich vor allem über Messenger-Gruppen vernetzen, ein festerer Kern aus wiederkehrenden Dauergästen heraus. Damit einher geht auch eine zunehmend explizite inhaltliche Prägung, die hinter den anfänglichen Bemühungen des penetranten Dauerredners de Vil zurückfällt, durch lockere Distanz zu allzu verwirrten Beiträgen anschlussfähig zu bleiben.

So konnten sich am Sonntag Anhänger*innen der absurden rechten „QAnon“-Legende, die in den USA vor allem als Wahlkampfhilfe für Trump prominent wurde, inmitten der Kundgebung platzieren, ein abgehalfteter angeblicher Arzt empfahl Vitamin D statt Abstandsregeln, was laut Publikum auch der Grund für dessen angebliche künstliche Verknappung durch die Bundesregierung sei. Eine Yoga-Lehrerin setzte darüber hinaus auf die heilende Wirkung von Schwingungen zur Therapie des tödlichen Virus. Als Vorbild für einen vorbildlichen Umgang mit der Pandemie galt den Redner*innen wiederholt Schweden, womit man sich interessanterweise mit der ansonsten viel gescholtenen WHO einig ist. Unter Inkaufnahme der höchsten Sterberate in Nordeuropa hat das skandinavische Land weitestgehend auf einen Lockdown verzichtet, was in der BRD mitlerweile von einem diskursiven rechten Bündnis aus Kapital, FDP, AfD und BILD als eine von Leichen gepflasterte Ideallösung propagiert wird, um dem deutschen Wirtschaftsstandort seine Vormachtstellung in Europa zu erhalten. Hier reihen sich die selbst ernannten Widerständler*innen ein, wenn sie gebotene Gesellschaftskritik durch reaktionären Aberglauben ersetzen und für mehr Solidaritätsabbau auf die Straße gehen. Erfreulicherweise erfuhren die Ausführungen der Anhänger*innen von „Widerstand 2020“ durch Passant*innen fast ausschließlich Desinteresse oder offene Ablehnung.

Die antifaschistischen Proteste, die am Rande der skurrilen Versammlungen in den letzten Wochen immer wieder auf deren reaktionären Hintergrund hingewiesen haben, tragen ihren wichtigen Beitrag dazu bei, dass die Teilnehmer*innenzahlen der rechtsoffenen und verschwörungsideologischen Aktionen im bundesweiten Vergleich in Kiel bisher überschaubar geblieben sind. Auch in den kommenden Wochen gilt es dafür zu sorgen, dass dies so bleibt. Auch an diesem Samstag soll wieder eine entsprechende Kundgebung auf dem Asmus-Bremer-Platz stattfinden, bei der antifaschistischer Widerspruch angebracht erscheint.