Redebeitrag 30.4.2012 / 1. Mai-Vorabenddemo Kiel

Liebe Genoss_innen, liebe Kieler_innen!

Morgen, am 1. Mai will die neo­na­zis­ti­sche NPD als Hö­he­punkt ihres Land­tags­wahl­kamp­fes in Neu­müns­ter auf­mar­schie­ren. Der 1. Mai ist tra­di­tio­nell der in­ter­na­tio­na­le Kampf­tag der Ar­bei­ter_in­nen­be­we­gung, an­läss­lich des­sen seit 1890 welt­weit Mil­lio­nen von Men­schen in Ge­den­ken an die Opfer des Ar­bei­ter_in­nen­auf­stands vom Chi­ca­go­er Hay­mar­ket 1886 und für Ar­bei­ter_in­nen­rech­te auf die Stra­ße gehen. Be­zugs­punkt für die NPD an die­sem Datum ist dagegen aber der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche „Tag der na­tio­na­len Ar­beit“. Die­ser wurde 1933 nur we­ni­ge Mo­na­te nach der Macht­über­tra­gung an Hit­ler als ge­setz­li­cher Fei­er­tag in Na­zi-​Deutsch­land in­stal­liert, um den be­fürch­te­ten an­ti­fa­schis­ti­schen Kund­ge­bun­gen der or­ga­ni­sier­ten Ar­bei­ter_in­nen­schaft am 1. Mai das Was­ser ab­zu­gra­ben und die Zer­schla­gung der Ge­werk­schaf­ten am 2. Mai vor­zu­be­rei­ten. Statt in­ter­na­tio­na­lem Klas­sen­kampf wurde nun die Deut­sche Ar­beits­front ge­fei­ert, im Mit­tel­punkt stan­den nicht mehr ant­ago­nis­ti­sche Klas­sen­ver­hält­nis­se son­dern die deut­sche Volks­ge­mein­schaft und das spe­zi­fisch deut­sche Ver­hält­nis zur Ar­beit als Selbst­zweck.

Die zahl­rei­chen fa­schis­ti­schen und rechts-​au­to­ri­tä­ren Re­gime in ganz Eu­ro­pa waren die re­ak­tio­nä­ren Ant­wor­ten auf die so­zia­len Ver­un­si­che­run­gen ei­ner­seits und re­vo­lu­tio­nä­ren Pro­zes­se an­de­rer­seits im Zuge der gro­ßen Welt­wirt­schafts­kri­se von 1929. Den­noch lässt sich ge­ra­de die deut­sche Spiel­art des Fa­schis­mus nicht ein­di­men­sio­nal als Kri­sen­fol­ge er­klä­ren: Der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus konn­te auf ein lange tra­dier­tes Fun­da­ment aus An­ti­se­mi­tis­mus, Chau­vi­nis­mus, Au­to­ri­ta­ris­mus und Mi­li­ta­ris­mus des völ­kisch be­grün­de­ten deut­schen Na­tio­nal­ge­fühls auf­bau­en. Die Ent­schei­dung der Mehr­heit der Deut­schen für die wahn­haf­te Aus­gren­zung, Aus­beu­tung, Ver­skla­vung und Ver­nich­tung von zu Un­ter­men­schen oder Volks­schäd­lin­gen er­klär­ten Men­schen und gegen die Op­ti­on der eman­zi­pa­to­ri­schen Auf­he­bung der kri­sen­haf­ten ka­pi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­se und der Durch­set­zung der Gleich­heit aller, gip­fel­te in Ver­nich­tungs­krieg und Shoa. Statt die Schuld für die Fol­gen der Wirt­schafts­kri­se in der bür­ger­lich-​ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­sell­schafts­ord­nung zu su­chen, wurde sie einem ideo­lo­gi­schen Außen zu­ge­scho­ben – vor allem einer an­geb­li­chen jü­disch-​bol­sche­wis­ti­schen Welt­ver­schwö­rung. Trotz sei­ner teil­wei­se re­bel­li­schen und an­ti-​bür­ger­li­chen In­sze­nie­rung: Der NS ist nur auf Grund­la­ge der Wi­der­sprüch­lich­keit der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft zu ver­ste­hen, die mit der bar­ba­ri­schen Re­gres­si­on seit ihrer Ent­ste­hung min­des­tens eben­so schwan­ger geht, wie mit der Mög­lich­keit ihrer eman­zi­pa­to­ri­schen Auf­he­bung.

Im gegenwärtigen Jahr 2012 er­le­ben wir gerade die hef­tigs­te Krise der ka­pi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaft der letz­ten 80 Jahre. In einem glo­ba­li­sier­ten Ka­pi­ta­lis­mus ver­su­chen die ein­zel­nen na­tio­nal­staat­lich ver­fass­ten Wirt­schafts­stand­or­te ihren Arsch zu ret­ten. Wenn die deut­sche Re­gie­rung ihre öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Vor­macht­stel­lung in Eu­ro­pa, die vor allem durch ihre ex­port­ori­en­tier­te Wirt­schaft auf Kos­ten der im­por­tie­ren­den Staa­ten und der hie­si­gen Lohn­ab­hän­gi­gen er­mög­licht wurde, ag­gres­siv durch den Ruin und die Un­ter­wer­fung von Stand­or­ten wie Grie­chen­land durch­setzt, be­treibt sie ka­pi­ta­lis­ti­schen Kon­kur­renz­kampf der Na­tio­nal­öko­no­mi­en – von oben.

Dass häu­fig grade in sol­chen Zei­ten ir­ra­tio­na­le und men­schen­feind­li­che Ideo­lo­gi­en an Be­deu­tung ge­win­nen ist kein Zu­fall. Durch vor­han­de­ne Res­sen­ti­ments und au­to­ri­tä­re Cha­rak­ter­zü­ge un­ter­stüt­zen viele Men­schen re­ak­tio­nä­re For­men der Kri­sen­ver­wal­tung. Wenn auf eher links ver­or­te­ten Kri­sen­de­mos unter Ver­wen­dung an­ti­se­mi­ti­scher Ste­reo­ty­pen in gie­ri­gen Macht­cli­quen die Ver­ant­wort­lich­keit ge­sucht und an deut­schen Stamm­ti­schen ras­sis­tisch gegen „faule Plei­te­grie­chen“ oder sozialchauvinistisch gegen „Langzeitarbeitslose“ ge­hetzt wird, ge­schieht die Ideo­lo­gie­pro­duk­ti­on nicht sel­ten auch ohne Hoch­glanz-​Kam­pa­gnen als Selbst­gän­ger von unten. So wird der Kon­kur­renz­kampf der na­tio­nal­staat­lich or­ga­ni­sier­ten Stand­or­te durch re­ak­tio­nä­re Res­sen­ti­ments le­gi­ti­miert.

Ge­ra­de im Um­gang des deut­schen Staa­tes und Stamm­ti­sches mit Grie­chen­land zeigt sich, dass es ein „ge­läu­ter­tes Deutsch­land“ nicht gibt, dass auch der „mo­der­ni­sier­te“ deut­sche Na­tio­na­lis­mus nicht ohne Groß­macht­stre­ben auskommt.​ Auf der einen Seite ver­wei­gert der selbst­er­nann­te „Er­in­ne­rungs­welt­meis­ter“ den Op­fern von NS-​Kriegs­ver­bre­chen nicht nur im grie­chi­schen Dist­o­mo Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen, an­de­rer­seits for­dert die BILD-​Zei­tung in im­pe­ria­ler Ma­nier: „Gebt uns Korfu, dann gibt’s Kohle.“ Zur Er­in­ne­rung: Der letz­te deut­sche An­lauf zur Be­herr­schung Kor­fus kos­te­te fast 1600 der 1900 dort le­ben­den Jü­din­nen und Juden das Leben, die An­zahl der Opfer der Bom­bar­die­run­gen ist nicht be­kannt.

Die NPD will morgen mit ihrem Aufmarsch in Neumünster stump­fen Motto „Wir ar­bei­ten – Brüs­sel kas­siert! Raus aus dem Euro!“ eine eher alt­ba­cke­ne Ver­si­on re­ak­tio­nä­rer Kri­sen­ver­wal­tung in Form der na­tio­na­len Aut­ar­kie propagieren – die frei­lich ohne krie­ge­ri­sche Raub­zü­ge nicht zu haben ist. Tat­säch­lich macht sie sich damit für einen an­de­ren Weg an­ti-​eman­zi­pa­to­ri­scher Kri­sen­po­li­tik stark, als den der deut­schen Do­mi­nanz in einem öko­no­misch ver­ei­nig­ten Eu­ro­pa. Die deut­sche Do­mi­nanz als Ziel haben auch zahl­rei­che Li­be­ra­le, So­zi­al­de­mo­kra­ten und Kon­ser­va­ti­ve. Das chau­vi­nis­ti­sche Stre­ben nach einer deut­schen Groß­macht als Ziel­vor­stel­lung gibt es als in ver­schie­de­nen Va­ri­an­ten, al­ler­dings ist es bei den be­ken­nen­den Neo­na­zis näher an der mör­de­ri­schen Tra­di­ti­on des his­to­ri­schen Na­tio­nal­so­zia­lis­mus an­ge­sie­delt.

Am 1. Mai, oder eben an seinem Vorabend, gilt es für uns also auch dem Ge­fa­sel von wahl­wei­se „Stand­ort“ oder „Volks­ge­mein­schaft“ ent­ge­gen­zu­tre­ten und klar­zu­ma­chen, dass das In­ter­es­se der deut­schen Schol­le nicht unser In­ter­es­se ist. Viel­mehr gilt es zu un­ter­strei­chen, dass Deutsch­land nur des­halb Kri­sen­ge­winn­ler ist, weil es hier seit Jah­ren sta­gnie­ren­de Re­al­löh­ne gibt, dass der Auf­schwung vor allem da­durch er­kauft wurde, dass mas­sen­wei­se be­schis­sen be­zahl­te Jobs ge­schaf­fen wor­den sind, sprich: Dass dem Ka­pi­tal al­ler­bes­te Ver­wer­tungs­mög­lich­kei­ten ge­schaf­fen wor­den sind.

Wir haben kei­nen Bock dar­auf, uns hier für ’ne Hand­voll oder auch ein paar mehr Euro ka­putt zu ar­bei­ten, wir haben kei­nen Bock uns als mo­der­ne Skla­ven in Lei­h­ar­beits­ver­hält­nis­sen zu ver­kau­fen oder von Hart­z4 zu ve­ge­tie­ren, damit der groß­deut­sche Stand­ort wei­ter zu sei­nen Guns­ten die Le­bens­be­din­gun­gen gan­zer Ge­sell­schaf­ten an­ders­wo zer­stö­ren kann. Des­halb kämp­fen wir auch und ge­ra­de heute noch im Geis­te der Hay­mar­ket-​Auf­stän­di­schen vom 1. Mai 1886 für die Auf­he­bung des zer­stö­re­ri­schen und men­schen­feind­li­chen ka­pi­ta­lis­ti­schen Aus­beu­tungs­ver­hält­nis­ses – über­all! Wenn wir den Nor­mal­be­trieb der Ka­pi­tal­ver­wer­tung hier in Deutsch­land sa­bo­tie­ren, be­trei­ben wir prak­ti­sche So­li­da­ri­tät mit den kämp­fen­den Men­schen in Grie­chen­land und an­ders­wo!

Gegen re­ak­tio­nä­re Kri­sen­ver­wal­tungs­stra­te­gi­en – für in­ter­na­tio­na­len Klas­sen­kampf!
So­li­da­ri­tät und Eman­zi­pa­ti­on statt na­tio­na­lis­ti­sche Bar­ba­rei!
Ka­pi­ta­lis­mus ab­schaf­fen – die be­frei­te Ge­sell­schaft er­kämp­fen!
Und morgen: Na­zi­auf­marsch am 1. Mai in Neu­müns­ter blo­ckie­ren – an­grei­fen – ver­hin­dern!