Lübeck vor dem Naziaufmarsch (2009)

von Autonome Antifas/Ag Lübeck:

Zum vierten Mal in Folge mobilisiert die norddeutsche Naziszene zu ihrem einzigen regelmäßigen Aufmarsch im Norden. Wie schon in den letzten Jahren werden am 28.03.2009 mehrere hundert Nazis und mehrere tausend Gegendemonstrant_innen in Lübeck erwartet.

Der Naziaufmarsch
Der Lübecker Naziaufmarsch ist der größte und einzige regelmäßige im Norden Deutschlands (zumindest im Nordwesten). Thematisch geht es um das derzeitige Lieblingsthema deutscher Nazis: Der Betonung und Übertreibung „deutscher Leiden“ im 2.Weltkrieg. Ziel hierbei ist natürlich die Relativierung der Verbrechen Nazideutschlands und die Rehabilitierung der mörderischen nationalsozialistischen Ideologie.
Anders als z.B. in Dresden gibt es in Lübeck kaum bürgerliche (tendenziell geschichtsrevisionistische) „Gedenktradition“ an die die Nazis anknüpfen könnten. Auch hat Lübeck damals tatsächlich recht wenig aufs Dach bekommen – die Stadt wurde in späteren Kriegsjahren als Lazarett-Stadt von den Alliierten verschont.
Dass das wichtigste Nazievent im Norden ausgerechnet in Lübeck stattfindet, liegt also weniger an besonders gut funktionierender Nazipropaganda in der Stadt. Die Lübecker Naziszene hat im Übrigen weder personell noch von ihren Kadern her besonders viel zu melden – der jämmerliche braune Haufen der Stadt ist mit ihrem NPD-„Führer“ Lemke (dieser ist jedes Jahr der Anmelder des Aufmarsches) nicht gerade mit einem begabten Organisator oder Redner gesegnet…
Trotzdem hängen Naziaufkleber für den Lübecker „Gedenkmarsch“ mittlerweile wieder in vielen Gegenden in ganz Norddeutschland. Nahezu jede Nazigruppe in SH, HH und MV ruft zur Teilnahme auf.
Schuld an der Etablierung des Lübecker Aufmarsches in den Nazi-Terminkalendern ist letztlich die Polizei, die es in Lübeck (im Gegensatz z.B. zu Kiel) immer wieder fertig brachte, den Aufmarsch gegen vielfältigen Widerstand tausender Antifaschist_innen durchzusetzen. Dieses gelang ihr mit großem personellem Aufwand (im letzten Jahr wurden über 1900 Polizeibeamte eingesetzt) und brutalen Einsätzen (siehe unten). Die städtebauliche Struktur Lübecks – mit seinen leicht abzusperrenden Bahnübergängen und Brücken war dem Einsatzkonzept der Polizei immer wieder dienlich.

„Auftakt“ am Samstag den 21.03.2009
Am vergangenen Samstag versuchten (wie auch schon in den letzten Jahren) ca. 40 Nazis eine Vorfeldaktion in form einer „Mahnwache“ in der Lübecker Innenstadt. Jörn Lemke und Thomas „Steiner“ Wulf hatten hierbei gute Gründe zu jammern: So konnten ca. 150 Antifaschist_innen trotz begleitenden BFE-Einheiten den ursprünglich geplanten Ort der Naziaktion besetzen. Die Braunen durften so an einen einsamen Platz an der Obertrave stehen, von beiden Straßenseiten eingekeilt von Antifas und an der Wasserseite von Antifas in einem Boot verhöhnt. Nicht nur dass sich partout kein einziges (!) ihrer „informativen“ Flugblätter verteilen ließ, es streikte auch noch ihr Megafon, was den Anwohner_innen letztlich das verstärkte Herumgeopfer der „stolzen Deutschen“ ersparte…
Jaja, so ist das mit den „deutschen Leiden“; aber Spaß beiseite, ohne Umsonstbus, mit dem die Nazis einmal mehr umherkutschiert wurden und „begleitendes“ Polizeiaufgebot hätten sie es wohl kaum in die Stadt geschafft – lasst uns dafür sorgen, dass sie es nächsten Samstag nicht schaffen auch nur einen Meter zu laufen!

Das „Wir können sie stoppen!“-Bündnis
Mit „Wir können sie stoppen!“ besteht in Lübeck seit vier Jahren ein breites, gut funktionierendes gesellschaftliches Bündnis gegen die Naziaufmärsche in der Stadt. Es wird vor allem getragen von linken Gruppen wie Avanti, dem Lübecker Bündnis gegen Rassismus, Basta!Linke Jugend und kirchlichen Gruppen, die anders als in anderen Städten zum Anti-Nazi-Thema ein großes Mobilisierungspotential haben. Aber auch Parteien, Gewerkschaften, Gruppen wie die VVN und Autonome sind kontinuierlich beim Bündnis dabei.
Bei einem derart heterogenen Bündnis ist es kein Wunder, dass es immer wieder inhaltliche Differenzen gibt. So gab es in den letzten Jahren immer wieder Diskussionen darum, ob und wenn wie, der Anlass des Naziaufmarsches – die Bombardierung Lübecks – vom Bündnis thematisiert werden soll. Auf der Bündnisdemo 2006 schwadronierte eine Rednerin des DGB trotz eines Beschlusses, die Bombardierung als Thema ganz auszusparen, von den „Leiden der Lübecker“ im 2.Weltkrieg. Im Jahre 2007 war der Vorschlag die berühmte Rede von Thomas Mann zu den Bomben auf seine „Heimatstadt“ inhaltlich zu verarbeiten, nach langen Diskussionen im Bündnis nicht konsensfähig. In dieser Frage hat sich mittlerweile einiges getan; im diesjährigen Bündnisaufruf werden die Bombardierung Coventrys durch deutsche Flugzeuge (die der Bombardierung Lübecks durch die Royal Air Force voraus ging) und die Geschichtsverdrehung der Nazis zumindest erwähnt.
Trotz aller Differenzen ist es auch für uns eine spannende Erfahrung, mit einem großen (teilweise bürgerlichen) Bündnis zusammen zu arbeiten, dass öffentlich dazu aufruft den Naziaufmarsch zu verhindern und auch in diesem Jahr versuchen wird, den Worten Taten folgen zu lassen.
Alle Spaltungsversuche von außen (in diesem und in den letzten Jahren vor allem von der Jungen Union, der CDU und der FDP unternommen) sind bisher gescheitert: Es gibt keine Distanzierungen bürgerlicher Bündnispartner von Linksradikalen oder umgekehrt!

Unangenehmer Redner auf der Bündniskundgebung

Im Bündnis galt bisher der ungeschriebene Konsens, dass Redner_innen, die von den im Bündnis vertretenen Gruppen delegiert werden auf der Kundgebung zu sprechen, keine Prominenten sein sollten. Die Medienaufmerksamkeit sollte sich eben nicht allein auf einzelne Promis konzentrieren. Außerdem war immer gewünscht, dass jede/r Redner/in Bezug zu den Lübecker Verhältnissen, am liebsten direkt zum Bündnis haben sollte.
Die Lübecker SPD, die in diesem Jahr erstmals im Bündnis mitarbeitet, hat diese Linie nun durchbrochen: Sie schickt den ehemaligen schleswig-holsteinischen Innenminister und derzeitigen Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion und aktuellen Herausforderer vom schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Peter Harry-Carstensen (CDU) Ralf STEGNER als Redner ins Rennen. Mit Stegner haben sie sich nicht nur einen Promi, sondern auf Landesebene auch denjenigen aus ihrer Partei ausgesucht, dessen Person am meisten polarisierend wirken dürfte. So war er während seiner Amtszeit als Innenminister 2005-2008 nicht nur zuständig für staatliche Repression gegen Nazis, sondern eben auch für die Landes-Abschiebungs-Politik. Außerdem fiel er als Hardliner der Inneren Sicherheit z.B. durch den Entwurf eines neuen Polizeigesetzes auf, dass unter anderem eine KFZ-Kennzeichenüberwachung, sowie eine erweiterte Festhaltebefugnis zur verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellung vorsah. Wir werden sehen, wie seine Rede verläuft…

Gedenken an die Lübecker Deportierten
Die antifaschistische Bündniskundgebung wird in diesem Jahr am Lübecker Hauptbahnhof stattfinden. Stand zu Beginn der Planungen eher die taktische Erwägung im Vordergrund den Nazis nicht den Bahnhof zu überlassen und ihnen den Weg in die Innenstadt zu versperren, so wird der Ort Bahnhof in diesem Jahr besonders thematisiert werden:
Das Lübecker Bahnhofsgebäude wurde im Krieg nicht zerstört. Es ist heute immer noch dieselbe Bahnhofshalle in Betrieb, durch die damals u.a. Lübecker Jüdinnen und Juden getrieben wurden, um sie in Viehwaggons zu sperren und in die Vernichtungslager zu deportieren. Aus diesem Grund wird es auf der Bündnis-Kundgebung von 11:00 bis 11:30 eine Gedenkveranstaltung geben, die inhaltlich deutlich von der Kundgebung getrennt werden soll. Z.Z. ist geplant, Namen deportierten Lübecker Jüdinnen und Juden von Schüler_innen verlesen zu lassen, Gedenktafeln aufzustellen usw. Als RednerInnen werden der Präsident des Landgerichtes Böttcher und die Stadtpräsidentin Schopenhauer (SPD), sowie wahrscheinlich ein/e Redner/in der Lübecker jüdischen Gemeinde auftreten.
Im Moment sieht es eher so aus, als würden die damaligen Verbrechen des Nationalsozialismus thematisiert werden, um vor den heutigen Neonazis zu warnen. Es bietet sich hier aber eine Chance auf weitergehende inhaltliche Arbeit: An kaum einem anderen Punkt wird der Widerspruch in der deutschen Erinnerungspolitik in Lübeck deutlicher als an dem Ort Bahnhof. Nazideutschland war der verbrecherischste Staat der Menschheitsgeschichte. Deutschland war verantwortlich für den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten, die Bombardierung „feindlicher“ Städte und die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden – den Holocaust! Grosse Teile der deutschen Bevölkerung standen bis zum Schluss hinter ihrer nationalsozialistischen Führung, aktiver Widerstand blieb eine marginale Randerscheinung. Die Verbrechen der Deutschen wurden erst von den alliierten Streitkräften gestoppt. Vor diesem Hintergrund ist es schlicht Geschichtsverdrehung, wenn „deutsche Opfer“ in einem Atemzug mit den Opfern des nationalsozialistischen Terrors genannt werden, wie es bis weit in die deutsche „bürgerliche Mitte“, in großem Maße in Dresden, in Ansätzen aber auch in Lübeck, immer wieder geschieht. Wenn Menschen sich an die persönliche Geschichte ihrer Großeltern erinnern wollen – sollen sie! Aber die Bombardierungen als Ganzes betrauern? Wie viele derjenigen, die am Lübecker Bahnhof in Viehwaggons verladenen wurden waren wohl traurig über die Bombardierung ihrer „Heimatstadt“?
Wir werden uns bemühen, dies in Zusammenhang mit der Lübecker Gedenkveranstaltung möglichst breit und öffentlich zu thematisieren.

Die Polizei
Im Zuge des letztjährigen Lübecker Naziaufmarsches sah sich die Polizei mit schwerwiegender Kritik und kritischer Öffentlichkeit konfrontiert.
– Schon im Vorfeld des Aufmarsches lösten die Bullen am Rande einer „Mahnwache“ der Nazis eine Sitzblockade mit massivem CS- und Prügeleinsatz auf und setzten scharfe Hunde ein. Unter den über 20 Verletzten befanden sich nicht nur „schwarz gekleidete Jugendliche“ (bei denen sich die Polizei ja normalerweise auch nicht zurückhält), sondern auch Vertreter_innen Lübecker Kirchengemeinden.
– Am Tag des Naziaufmarsches selber wurden viele der insgesamt 81 in Gewahrsam- und 7 festgenommenen Gegendemonstrant_innen von Beamt_innen gezwungen, sich auf kalten, zugigen Fluren zu entkleiden. Besonders die Tatsache, dass auch Minderjährige gezwungen wurden sich vor Polizist_innen anderen Geschlechtes zu entkleiden, sorgte für öffentlichen Protest.
– Die Humanistische Union (die eine Demo-Beobachtung gemacht hatte) dokumentierte in einem offenen Brief nachweisbare schwere Körperverletzungen an bereits fest- oder in Gewahrsam genommen Leuten durch Polizeischläger_innen.
– In Interviews auf dem Hamburger linken Radio-Sender FSK war von sexuellen Übergriffen von BFE-Beamten auf in Gewahrsam genommene Frauen die Rede.
– BFE-Trupps stürmten ohne erkennbaren Grund immer wieder in die antifaschistische Kundgebung.
Die schweren Vorwürfe gegen die Einsatzleitung der Polizei, sowie auch eine von den Medien wahrgenommene Antirepressionsdemo am Folgetag des Aufmarsches 2008 zwang Einsatzleiter Hüttmann zu Rechtfertigungen in der Presse.
In diesem Jahr ist die Diskussion um das Verhalten der Polizei nun schon im Vorfeld (zumindest zaghaft) in der Öffentlichkeit entbrannt: So wird über Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte und vor allem das Verhalten der Berliner BFE-Einheit am Rande des letztjährigen Naziaufmarsches diskutiert (zu den Medienberichten checkt www.wirkoennensiestoppen.de).
Die Lübecker Bürgerschaft forderte das Innenministerium auf, für eine Kennzeichnung der Einsatzkräfte am 28.03. zu sorgen, was dieses (natürlich) ablehnte. Ein Mitglied des Innenausschusses des Landtages hat angekündigt, am 28.03. den ganzen Tag mit der Einsatzleitung mitzulaufen und das Geschehen zu beobachten.
Ob die Polizei meint, sich ähnlich brutale und überzogene Einsätze erlauben zu können wie im letzten Jahr wird mensch sehen. Die einfachste Übung für sie sollte sein, keine Berliner Schläger_innen einzusetzen – die kümmern sich schließlich auch zeitgleich um die „Wir zahlen nicht für eure Krise!“-Demo. Und außerdem haben ja auch Hamburg und Schleswig-Holstein berüchtigte Sondereinheiten zu bieten…
Es ist auf jeden Fall erfreulich, dass sich die Einsatzleitung schon im Voraus mit kritischer Öffentlichkeit konfrontiert sieht. Es sollte Hüttmann und Konsorten in diesem Jahr aber ungleich schwerer fallen, Übergriffe durch ihre Fußtruppen öffentlich zu rechtfertigen als in den letzten Jahren.

Auf nach Lübeck!
Wie ihr seht gibt es eine Vielzahl von Gründen, am 28.03. in Lübeck aktiv zu werden – um Inhalte zu transportieren, die staatliche Repression zu entlarven und vor allem um das wichtigste Event der norddeutschen Naziszene zu verhindern!
Überlegt euch vorher, was und wo ihr in Lübeck tun wollt. Die Nazis sollen nach derzeitigem Stand ab 12:00 durch den Nebenausgang des Lübecker Bahnhofes (nach norden) durch das so genannte Musikerviertel laufen. Ein legaler Anlaufpunkt in diesem Viertel wäre der Gottesdienst um 9:00 in der St.Lorenz-Kirche (nah am Bahnhof). Vom Bahnhofsvorplatz (südlich vom Bhf) – wo ab 10:00 die antifaschistische Kundgebung stattfinden wird, wird es voraussichtlich später kaum möglich sein, die Schienen zu überqueren. Wie oben beschrieben gäbe es aber natürlich trotzdem Gründe, genau dort zu sein.

Für Leute die sich aus Kiel und Umgebung an einem gemeinsamen Anreiskonzept beteiligen wollen: checkt www.antifa-kiel.org und kommt vor allem zum Antifa-Cafe am Do den 26.03. in die Alte Meierei!
Für Leute die sich aus Hamburg und Umgebung an einem gemeinsamen Anreiskonzept beteiligen wollen: checkt (kurzfristig) www.antifainfo.de und www.ali.blogsport.de!

Kein Frieden mit Deutschland, seiner Geschichtsverdrehung und seinen Nazis!
Keine Gewöhnung an den größten Naziaufmarsch im Norden – verdammt noch mal!!!!
Am 28.03. nach Lübeck!

Autonome Antifas/AG Lübeck, 22.03.2009