Neues Altes: 20 Nazis, 20 Minuten und Zweierreihen

Nachdem die organisierte Neonaziszene Schleswig-Holsteins im auslaufenden Jahr 2010 und Anfang 2011 in aktionistischer Hinsicht relativ leise getreten hatte, stellen sich diese seit einigen Wochen wieder vermehrt öffentlich zur Schau – auch über den mittlerweile schon ritualisierten Aktivismus rund um den jährlichen Aufmarsch in Lübeck am 26. März hinaus. Dabei ist zu beobachten, dass die jüngsten Auftritte sich in ihrer Strategie sehr ähneln, die zwar keine völlig neue, aber eine in dieser Häufung ungewohnte ist. Mittlerweile vier Mal ist es in den letzten fünf Wochen an verschiedenen schleswig-holsteinischen Orten zu unangekündigten und nicht im Vorfeld angemeldeten Neonazi-Demonstratiönchen gekommen, die zwar ob ihrer zeitlichen Kürze von jeweils höchstens einer halben Stunde und geringen TeilnehmerInnenzahlen zwischen knapp 20 und 40 TeilnehmerInnen in ihrer Außenwirkung gering waren, aber aufgrund der strikten Geheimhaltung im Vornhinein weitestgehend ungestört verlaufen konnten.

Auftakt dieser Reihe von vermeintlich spontanen Miniaufmärschen war ein mehrminütiger Auflauf von etwa 20-25 Neonazis aus Kiel, Nordfriesland und Schleswig/Flensburg im Kieler Einkaufszentrum „Sophienhof“ im Anschluss an ihre Rückkehr vom Lübecker Naziaufmarsch am 26. März.

Drei Wochen später, am späten Nachmittag des 16. April, liefen knapp 20 größtenteils Kieler Neonazis mit Fahnen und einem Transparent einmal die innenstädtische Einkaufsmeile Holstenstraße herauf – geduldet von der Polizei, die zuvor die Personalien der Neonazis kontrolliert hatte. Hintergrund dessen war nach eigenen Angaben der Neonazis ihr Protest gegen vermeintliche „linke Gewalt“, da einer der Neonazis am morgen des selben Tages im Straßenverkehr unaufmerksam gewesen war und angeblich seinen Fuß von einem Auto überrollen ließ. Er und seine braunen MitstreiterInnen waren bereits den ganzen Tag zusammen unterwegs gewesen, um gemeinsam im Müll herum zu wühlen, wozu in der Neonaziszene für diesen Tag aufgerufen worden war. Unter den TeilnehmerInnen befanden sich nicht nur zu erwartende Dauergäste wie der NPD-Landesvorsitzende Jens Lütke, sondern interessanterweise erstmals seit vielen Monaten auch mal wieder der einstige AG Kiel-Aktivposten Daniel Zöllner.

In ähnlicher Konstellation und Größenordnung kam es am Ostermontag zu einem weiteren neonazistischen Schaulaufen, diesmal in dem kleinen Ort Bornhöved im Kreis Segeberg, wo man vorgeblich gegen Kindesmissbrauch demonstrierte. Auch hier trat wieder Daniel Zöllner in organisatorisch relevanter Position auf.

Großen Medienwiderhall fand die bisher jüngste und folgenreichste neonazistische Aktion im nördlichsten Bundesland: Am Morgen des 1. Mai – dem traditionsreichen internationalen Kampftag der Arbeiter_innenklasse, an dem jedes Jahr leider auch Neonazis aktiv werden – führten etwa 40 Neonazis aus ganz Schleswig-Holstein einen wiederum überraschenden Aufmarsch in Husum durch. Waren die vorausgegangenen Aktiönchen allesamt eher unspektakulär verlaufen, kam es an diesem Tag zu einem Angriff des Nazimobs auf die Maikundgebung des DGB, bei dem Infostände beschädigt und eine Person verletzt wurde. Mit dabei war abermals der Vorsitzende der Landes-NPD Jens Lütke.

Die Geschehnisse der letzten Wochen sprechen in Anbetracht der Größe und der notwendigen Geheimhaltung ihrer Blitz-Aktionen zwar weiterhin nicht für eine besondere oder wachsende Stärke der schleswig-holsteinischen Neonaziszene, wohl aber für einen motivierten und vernetzten Kern von 20-40 AktivistInnen sowohl aus NPD, als auch „freien“ Neonazistrukturen. Dieser ist derzeit fähig, mehrmals pro Monat kleinere Aktionen durchzuführen, die keiner weiteren Mobilisierung bedürfen. Bekannte und langjährige Kieler Nazikader mischen bei diesen in tonangebender Funktion genauso mit, wie das fluktuierende Fußvolk wie z.B. der erst seit Kurzem in Erscheinung tretenden FN Kiel. Die Themenauswahl scheint dabei eher Alibi- denn eine politisch-strategischen Überlegungen zu folgen. Bedient wird sich inhaltlich jedenfalls relativ beliebig – von „Kindesmissbrauch“ bis zu „linker Gewalt“ – an den altbekannten Aufhängern für ihre menschenverachtende Hetze. Die begrenzte öffentliche Außenwirkung ist bei dieser aktuell favorisierten Strategie ein wohl eher hintergründiges Problem. In erster Linie dürfte der Nutzen für die organisierten Nazistrukturen darin liegen, sich mit dem ungewohnt störungsfreien Verlauf der Blitzdemos gegenseitig gefühlte kollektive Erfolgserlebnisse zu schaffen, die die Szene weiter in ihrem Aktivismus beflügeln und zusammenschweißen. Als ein Ausdruck dessen kann auch der Angriff vom vergangenen Sonntag in Husum gesehen werden.

Deshalb, und weil auch und gerade kleine und unvorhergesehene Zusammenrottungen von Neonazis immer auch eine Gefahr für alle darstellen, die nicht in ihr rassistisches, antisemitisches und nationalistisches Weltbild passen oder in Opposition zu ihnen stehen, ist es wichtig, den mal wieder übermütigen schleswig-holsteinischen Neonazis ihre Illusion, auch zukünftig ungestört durch die Straßen marodieren zu können, möglichst schnell wieder zu nehmen. Wie immer erfordert dies viele offene antifaschistische Ohren und Augen und spontane und entschlossene Handlungsfähigkeit, was erfahrungsgemäß insbesondere in den Sommermonaten verstärkt an Aktualität gewinnt.

In Anbetracht dessen rufen wir alle Antifaschist_innen in Kiel und allen anderen Gegenden Schleswig-Holsteins dazu auf, am kommenden Wochenende, auf dessen Sonntag in diesem Jahr der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus, fällt wachsam zu sein und im Fall der Fälle selbstverantwortlich und schnell wichtige Informationen weiter zu verbreiten und zu handeln. An diesem Tag ist es in den vergangenen beiden Jahren neben dem NS-verherrlichenden Putzen von Kriegsdenkmälern, zu dem bundesweite Nazistrukturen auch dieses Jahr wieder aufrufen, auch zu öffentlichen, aber nicht ungestörten Neonazi-Auftritten gekommen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die schleswig-holsteinische Naziszene plant, ihre Aktionsserie der letzten Wochen fortzusetzen.

Informiert Euch und andere – nutzt die vorhandenen antifaschistischen Informationskanäle!


Bildet Banden – seid aufmerksam, spontan, schnell und entschlossen!


Kein Meter und keine Minute für Nazis – nicht am 8. Mai, noch sonstwann!

 

 

 

>> So. 8.5.2011: Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung | 17 Uhr Eichhof Kiel