Wir dokumentieren einen Artikel von la quimera – antifascist watch-group sh:
 Am 1. Mai 2011 griff eine Gruppe Neonazis eine zivilgesellschaftliche Kundgebung zum Tag der Arbeit in der schleswig-holsteinischen  Kleinstadt Husum an. Dieser Angriff sorgte bundesweit für Schlagzeilen  und bewies so vermeintlich die zur Disposition stehende  Handlungsfähigkeit der Neonazi-Szene. Die antifaschistische  Öffentlichkeit reagierte mit Empörung, die Behörden verfolgten die  Täter_innen und die Neonazis feierten ihre Aktion. Nach fast zwei Jahren Aufarbeitung sind inzwischen viele Fakten bekannt  und sollen hier zusammengefasst dargestellt werden. Neben der Aufklärung über den Übergriff soll dabei auch Raum sein, um anhand der  Geschehnisse Schlüsse über die Wirkmechanismen der neonazistischen  Strukturen in Schleswig-Holstein abzuleiten.
  
 Ereignisse
 Am 1. Mai 2011 zog eine Gruppe von ca. 40 Neonazis im Rahmen einer  „Spontandemonstration“ durch Husum. Anstatt sich bundesweiten  Szene-Veranstaltungen zum 1. Mai anzuschließen zog es ein Teil der  lokalen neonazistischen Rechten vor, klandestin mobilisiert durch Husum  zu ziehen. Hierzu verkündete das Fronttransparent das Motto „Revolution  jetzt“, Flugblätter wurden geworfen. Noch vor dem offiziellen Beginn der gewerkschaftlichen Feierlichkeiten zum 1. Mai am Husumer Hafen  erreichten die Neonazis die Szenerie und demolierten Stände und Autos,  warfen Mobiliar ins Hafenbecken und schlugen auf Gewerkschaftler_innen  und Parteimitglieder_innen ein, die gerade damit beschäftigt waren, ihre Stände aufzubauen. Anschließend flüchtete der rechte Mob und verließ  zum größten Teil in einem Autokonvoi die Stadt, welchen die Polizei  unweit von Husum stoppen konnte. Die Folgen des Angriffs waren, wie von  den Organisator_innen der „Spontandemonstration“ geplant, beträchtlich.
 Einige der Betroffenen der neonazistischen Gewalt mussten im Krankenhaus  behandelt werden und es entstand nennenswerter Sachschaden in der  Husumer Innenstadt. Folgerichtig sorgte der Angriff für große  gesellschaftliche und mediale Reaktionen.
 Beteiligte Strukturen und Personen
 Die Zusammensetzung der Teilnehmer_innen des neonazistischen Aufmarsches  spiegelt erneut ein Spezifikum der neonazistischen Rechten in  Schleswig-Holstein wider. Während in anderen Regionen die Aufteilung der Neonazi-Szene in „Freie Kräfte“ und Parteistrukturen sinnvoll  erscheint, ist in Schleswig-Holstein eine Unterscheidung zwischen dem  radikalen Flügel des NPD-Landesverbands und den kameradschaftlichen  Strukturen kaum zu treffen. So werden vermeintliche Aktionen der  „Freien“, wie der „Trauermarsch“, der bis letztes Jahr jährlich in  Lübeck stattfand, stets maßgeblich von NPD-Mitgliedern mitgetragen und  umgekehrt wird die Parteipropaganda der NPD von den meisten  parteiunabhängigen Strukturen unterstützt. Insbesondere die Funktionäre  Roland Siegfried Fischer und Jörn Lemke sind nicht eindeutig einem der  beiden Lager zuzuordnen1.
 Diese Einheit der NPD und den „Freien Kräften“ bekommt erst in jüngster  Vergangenheit Risse. So gab es Aufrufe zum Wahlboykott aus der  Kameradschaftsszene vor der letzten Wahl, V-Person-Gerüchte um Jörn  Lemke und den Parteiaustritt von Roland Fischer1+2. Auch die Ereignisse in Folge des Angriffs in Husum dürften die  Kooperationsbereitschaft in der „Szene“ beschädigt haben, dazu unten  mehr.
 Angereist sind die Teilnehmer_innen der Aktion in Husum aus großen Teilen Schleswig-Holsteins und aus Hamburg, wobei insbesondere  größere Reisegruppen aus dem Hamburger Umland, Kiel und Flensburg die  lokalen Neonazis unterstützten. Als Organisatoren mit örtlichem Bezug  werden vor allem Christopher Hansen (Husum) und Arne Kaehne  (Oster-Ohrstedt) genannt. Letzterer ist ein bekannter NPD-Kandidat, der  mit seiner Schwester Silke, die inzwischen aufgrund einer Heirat Hansen  heisst, seit Jahren als ein wichtiger neonazistischer Drahtzieher im  Norden Schleswig-Holsteins gilt. So sagte ein Neonazi aus Flensburg  gegenüber den Ermittlungsbehörden aus, dass Arne Kaehne ihn und seine  Gruppe zu der Demonstration geleitet habe und schon vor Beginn der  Ereignisse den Angriff auf die DGB-Kundgebung als Marschrichtung vorgab. Aus Husum war außerdem der örtliche NPD-Kandidat Marc-Richard Tenten  anwesend. Als Tonangeber der Gruppe aus Flensburg wurden Andreas Fischer und Michael Czupras (beide Flensburg-Weiche) in der Aussage benannt.
 Aus Kiel und Umgebung waren drei Autos von Neonazis vertreten. Die  personelle Zusammensetzung der Gruppe trägt die Handschrift des  damaligen NPD-Kaders Roland Fischer, neben ihm und dem damaligen  Landesvorsitzenden der NPD, Jens Lütke (Preetz), waren vor allem  Mitglieder der „Freien Nationalisten Kiel“ (FN KI) und deren Umfeld an  der Aktion beteiligt. Die FN KI sind eine lose Unterstützungsgruppe der  örtlichen NPD-Strukturen, die maßgeblich von Roland Fischer ins Leben  gerufen wurde. Neben den Autos von Fischer und Lütke wurde das des  Neonazis Timo Räwel für die Fahrt von Kiel nach Husum genutzt.
Abgesehen von subkulturell geprägten Neonazis aus den Vororten Kiels ist vor allem die Beteiligung von Stefanie Kohrn zu erwähnen. Die ehemalige NPD-Kandidatin und jetziges Mitglied der FN KI erlangte größere Bekanntheit, als sie 2011 das Mobilisierungsvideo für den „Trauermarsch“ in Lübeck mit Roland Fischer zusammen drehte2. Fischer selbst wurde in einer der Aussagen der Neonazis bei der Polizei belastet, in Husum mit einem Tisch auf politische Gegner_innen eingeschlagen zu haben.
 Aus dem Hamburger Umland ist vor  allem die Beteiligung des Anti-Antifa-Aktvisten Dennis Brandt zu  erwähnen, der nach den Ereignissen von Husum ebenfalls eine umfassende  Aussage bei dem polizeilichen Staatsschutz machte3.
 Die Ereignisse selbst, deren zeitlicher Ablauf und die Aussagen der  Neonazis bei der Polizei sprechen für einen geplanten Angriff, der  konsequent in die Taktik die neonazistischen Strukturen in  Schleswig-Holstein passt, dem antifaschistischen Widerstand durch  interne Mobilisierungen zu entgehen. Auch zeigte sich zum wiederholten  Male, dass auch in der vermeintlich biederen NPD fast durchgehend eine  positive Einstellung gegenüber der militanten Durchsetzung der  neonazistischen Zielsetzungen herrscht.
 Die Mobilisierung selbst  erfolgte durch interne Kommunikationsmittel und war so koordiniert, dass die Teilnehmer_innen mit unterschiedlicher Anreisedauer gleichzeitig in Husum eintrafen. Auch reisten nicht alle Neonazis direkt an, sondern es existierten Vorabtreffpunkte. So sollen z. B. Teile der Flensburger  Neonazis zuerst nach Niebüll gefahren sein, um von dort mit „Kameraden“  der AG Niebüll gemeinsam anzureisen.
 Terminiert war die Anreise so,  dass die Demonstration spätestens gegen neun Uhr morgens starten konnte, damit ein Angriff auf politische Gegner_innen noch vor der offiziellen  Eröffnung der gewerkschaftlichen Kundgebung um 10 Uhr erfolgen konnte.
 Repression und weitere Folgen für die Neonazi-Szene
 In der Folge des neonazistischen Übergriffs in Husum konnten die  Ermittlungsbehörden 36 Personen als mutmaßliche Beteiligte  identifizieren und durchsuchten deren Wohnungen. Es ergingen  Strafbefehle gegen viele Neonazis, erst am 14.02.2013 mussten sich  Marc-Richard Tenten und Stephan Karioth in Flensburg vor Gericht  verantworten4.
 Damit ist die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse vermutlich  abgeschlossen. Auch wenn sich die Folgen auf Geldstrafen beschränkten,  hinterließ der Druck der Öffentlichkeit und der Ermittlungsbehörden  deutliche Spuren. Drei Neonazis sollen nach den Ereignissen mit den  Ermittlungsbehörden kooperiert haben: Der schon vorher abtrünnige  ehemalige NPD-Kandidat Kevin Stein, der in der Kameradschaftsszene  bekannte Dennis Brandt und ein Neonazi aus Flensburg. Deren Aussagen  belasteten einige „Kameraden“ schwer und ließen Einblicke in die  neonazistischen Organisationsformen in Schleswig-Holstein zu. Als vor  der letzten Wahl Neonazis Teile der NPD-Spitze (insbesondere Roland  Fischer und Jörn Lemke) als Verfassungsschutzmitarbeiter outeten,  tauchten schnell Gerüchte in der Szene auf, wer der verborgene  Denunziant sein könnte. Insbesondere die abtrünnigen Dennis Brandt und  Kevin Stein werden in diesem Zusammenhang genannt und verdächtigt,  Stimmung gegen die NPD gemacht zu haben.
 Auch aktuell wird der  Überfall von Husum, vor allem aber dessen Folgen immer wieder in  neonazistischen Veröffentlichungen erwähnt. Meist ist in diesem  Zusammenhang nicht mehr von einem aktionistischen Erfolg die Rede,  sondern wird die Opferrolle im Angesicht der vermeintlich unberechtigten Folgen eingenommen.
 Fazit
 Direkt nach  den Ereignissen von Husum schien die neonazistische Szene eines ihrer  Dilemmas, nämlich zu wenig aktionistische Plattform für  erlebnisorientierte und gewaltaffine junge Neonazis zu bieten,  überwunden zu haben. Antifaschistische Zusammenhänge, Zivilgesellschaft  und Ermittlungsbehörden wurden gleichermaßen überrascht und im „Kampf um die Strasse“ konnte ein Zeichen gesetzt werden. Dies sprach vor allem  Neonazis an, die sich nicht dafür begeistern lassen, bei angemeldeten  Veranstaltungen stundenlang hinter Polizeiketten zu verharren oder bei  Infoständen sich buchstäblich die Beine in den Bauch zu stehen.
 Konsequenterweise nahmen deshalb in Husum auch Neonazis teil, die nie zuvor bei  angemeldeten Demonstrationen oder Infoständen aufgetaucht waren.  Umgekehrt fehlte ein Teil des „biederen Spektrums“.
 In der Folge  waren die neonazistischen Strukturen Schleswig-Holsteins nicht in der  Lage, mit den Folgen der Aktion adäquat umzugehen.
 Kritische  Medienberichte, Aktionen antifaschistischer Zusammenhänge und die  Hausdurchsuchungen und Geldstrafen der staatlichen Stellen bewirkten  Verunsicherung bis hin zu Aussagen gegen „Kameraden“ und gegenseitige  Anfeindungen. Auch wenn im Moment viele andere Belastungsfaktoren  insbesondere den NPD-Landesverband schwächen5, hat der Angriff von Husum und dessen Folgen im Nachhinein die neonazistische Szene destabilisiert.
http://quimera.noblogs.org
1 http://quimera.noblogs.org/2013/die-npd-in-schleswig-holstein-ein-zustan…
2 https://luebeck.systemausfall.org/?p=639
3 https://linksunten.indymedia.org/en/node/77633
4 http://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/auftritt-in-rollkommando-ma…
5 http://quimera.noblogs.org/2013/die-npd-in-schleswig-holstein-ein-zustan…

